Lob der Langsamkeit — Thomas Hampson über seine Arbeit in der Liedakademie

Seit 2011 leitet der Sänger und Liedbotschafter Thomas Hampson die Heidelberger Frühling Liedakademie. Diese hat sich vom ehemaligen Schwerpunkt im Musikfestival zu einem eigenständigen, ganzjährigen Förderprogramm für junge Sänger*innen und Pianist*innen entwickelt. Das Programm umfasst Meisterklassen mit dem Künstlerischen Leiter und weiteren namhaften Dozenten sowie Konzertauftritte in Heidelberg und Berlin.

Im Hinblick auf das Liedfestival 2024, in dem der aktuelle Jahrgang der Stipendiat*innen seinen Abschluss feiert, haben wir mit Thomas Hampson gesprochen — über das Auswahlverfahren der Teilnehmer*innen, den großen Ehrgeiz der jungen Generation und darüber, dass Talent nicht alles ist.

AC: Seit 2011 bist Du Künstlerischer Leiter der Heidelberger Frühling Liedakademie. Woran erkennst Du zu Beginn eines Jahrgangs, mit was für einer Gruppe Du es jeweils zu tun hast? Worin unterscheiden sich die Dynamiken der Persönlichkeiten im Vergleich der Jahrgänge?

TH: Die Zusammenstellung dieser „Klasse“, wie ich das nenne, ist immer eine enorm spannende Angelegenheit. Videos von knapp 140 Bewerbern habe ich mir vergangenen
Sommer angeschaut. Bei der Auswahl im Vorsingen geht es dann nicht allein darum, die Begabtesten zu identifizieren. Vor allem muss ich abschätzen, wie die künstlerischen
Persönlichkeiten beschaffen sind und bei wem ich etwas wirklich Produktives beitragen kann. Ich möchte erkennen, wo die jungen Kolleginnen und Kollegen sich jeweils befinden, und ob und wie ich ihnen weiterhelfen kann. Dieses Mal haben wir überwiegend Frauen aufgenommen, letztes Jahr waren es vor allem Männer. Das ergibt sich so, aber es macht sehr viel Spaß! Es sind wunderbare Leute, wirklich interessante Persönlichkeiten. Gegenüber den ersten Jahren haben wir inzwischen ein sehr viel umfangreicheres Akademieprogramm mit drei
bis vier Modulen und zusätzlichen Dozierenden; die Schubert-Woche im Januar im Pierre Boulez Saal in Berlin kam als attraktive Station hinzu.

AC: Welche Veränderungen erkennst Du in der Mentalität und in der Ausbildung der jungen Leute?

TH: Die Frage ist natürlich, ob die Leute sich geändert haben, oder ob meine Wahrnehmung eine andere ist. Nach wie vor glaube ich, dass die eigentliche Technik und die Kenntnis körperlicher Zusammenhänge in der Gesangsausbildung zu wenig berücksichtigt wird. Die wesentliche Veränderung ist vielleicht, dass die etwa 24- bis 26-Jährigen, die zu uns kommen, mehr Ehrgeiz in Richtung einer Karriere haben. Wenn sich schon erste Erfolge eingestellt haben, neigen sie mitunter dazu, die enorme Arbeit zu unterschätzen, die sie weiterhin – im Grunde ein ganzes
Sängerleben lang! – beständig werden leisten müssen. Das Wissen um unser Leben, das Studieren, das Aufbauen der Technik, sich Einsingen, auf die Gesundheit achten, das Wachsen mit dem eigenen Alter: all das läuft auf einen sehr, sehr langen Werdegang hinaus. In dieser Hinsicht sind die jungen Leute heute vielleicht etwas ungeduldig.

AC: Du meinst das Bewusstsein für die elementare Hygiene des Gesangs? Die Geduld, die Dinge sich organisch entwickeln zu lassen? Ein bisschen die alte Schule des „wissenden Sängers“?

TH: Der Weg von der Identifikation eines Talents bis zur Aufführung auf der Bühne hat sich stark verkürzt, vielleicht ein bisschen zu sehr. Die Chance unserer Liedakademie liegt auch darin, das ein bisschen zu verlangsamen und noch bewusster auf die Basis zu achten, sodass der Inhalt, von dem eigentlich gesungen werden soll, klarer werden kann. Die alte Schule – das war ein Aufbau, der wesentlich privater ablief und wesentlich länger dauerte. Nun leben wir nicht mehr in dieser Welt, die Kenntnis davon ist aber dennoch wichtig. Man kann nicht früh genug damit anfangen, eine Disziplin zu beherrschen. Gerade junge Sänger, die mit 25 Jahren schon ein bisschen ahnen, welches Potential in ihnen steckt, sollten wir dazu bringen, sehr genau darauf zu achten, dass die elementaren Dinge in Ordnung sind. Begabung, Training, Aufbau, Kenntnis – erst das Zusammenspiel all dieser Faktoren macht den stabilen Sänger aus. Im Grunde muss er, muss sie das Studieren mehr lieben als die Aufführung – das ist halt so …

AC: Worin unterscheidet sich der Unterricht einer Liedakademie vom herkömmlichen Gesangsunterricht?

TH: Ich sehe es als eine Ergänzung, eine Fortsetzung. Wir arbeiten dort, wo eine feinere, bewusstere Legierung von Absicht, Technik und Sinn des Singens gefunden werden soll. In gewisser Weise ist es eine Befreiung, sich in Ruhe fragen zu können: Zu welchem Zweck singe ich? Welche Geschichte möchte ich erzählen? Oft ist die technische Hervorbringung einer Phrase so anspruchsvoll, dass das, was da kommuniziert werden soll, quasi am Boden liegen bleibt. Meine Aufgabe ist es, für jede und jeden der Gruppe den Quotienten dieser Anforderungen so weit wie möglich zu steigern. Übrigens ist es auch für das Publikum enorm spannend, den sehr unterschiedlichen Status der Teilnehmenden zu erleben und zu schauen, auf welch verschiedene Weise die Faktoren des Singens jeweils zusammenspielen. Sie auf ihrer ganz spezifischen Ebene zu treffen und aufzubauen, diese Aufgabe nehme ich sehr ernst. Ein Sänger wird von seinem Lehrer durch die Ohren erzogen, sagte man früher. Ich sehe das auch so. Dabei sind die Ohren eben immer auch Herz und Glaubwürdigkeit.

AC: Was bedeutet das konkret?

TH: Schuberts „Nacht und Träume“ zum Beispiel – das ist keine Geheimwissenschaft. Das Lied ist relativ direkt und einfach zu verstehen. Aber man muss es singen können. Das Legato, der Resonanzbereich der Stimme, die Farbe der Vokale, all diese Dinge soll ein Publikum nicht wahrnehmen. Es soll das Kunstwerk erleben und die Illusion, als gäbe es hier keine Atempausen. Das ist Technik, das ist die physische Arbeit, Transzendenz zu erwecken. Darin liegt der höchste Genuss, den ein Sänger erfahren kann. Ganz egal ob drei Leute zuhören oder dreitausend…

Das Gespräch führte Anselm Cybinski, Gesamtdramaturg beim Heidelberger Frühling.